Eine „Legende“ – zum 60. Geburtstag von Ronald M. Schernikau

Eine „Legende“ – zum 60. Geburtstag von Ronald M. Schernikau

Bücher von Schernikau

ich habe angst. bin weiblich, bin männlich, doppelt.“ – so beginnt seine „Kleinstadtnovelle“, mit 18 Jahren geschrieben und 4 Wochen vor dem Abitur dann als gedrucktes Buch in seiner Klasse an Lehrer und Schüler verteilt. Nicht nur eine Coming-out-Geschichte, sondern auch eine radikal freche Gesellschaftskritik, die die ausweglose Situation Jugendlicher in einer auf Anpassung und Stillstand ausgerichteten Gesellschaft zeigt. Das Buch wurde zu einer kleinen literarischen Sensation und Schernikau Jungstar der bundesdeutschen Literaturszene.  Er versuchte mit seinen Texten Möglichkeiten aufzuzeigen, die eine für alle Menschen würdige Welt denkbar macht. Der Kommunismus ist dabei auch eine Chiffre für freie sexuelle Identitäten und eine lustbetonte Gesellschaft.  Als er 1983 begann, an seinem „Alterswerk“ der „legende“ zu arbeiten, erste Texte und Entwürfe schrieb und sammelte, ahnte er nicht, das es ihn die nächsten sieben Jahre beschäftigen würde. Sein Opus Magnum, ein Texkonvolut von über 800 Seiten, ganz unbescheiden an die Bibel angelehnt, ein Vermischung verschiedenster Stile, Erzählung, Filmszenario, Slapstick, Liebesroman,  Komödie, Gedichtsammlung, Kapitalismuskritik, Berlinroman, eine Melange aus magischen und sozialistischen Realismus …. Als es 1990 zur Gewissheit wurde, dass es auch sein letztes Buch sein würde, fügte er noch einige bisher unveröffentlichte Texte, die er wichtig fand, ein.

Doch auch sein Leben bietet Stoff für einen Roman. Am 11. Juli 1960 in Magdeburg geboren,  flieht seine Mutter mit ihm, als er 6 Jahre alt ist, in den Westen. Dort wuchs er in einer Kleinstadt nahe Hannover auf, beschäftigte sich schon früh mit Literatur und Gesellschaftspolitik, mit 16 trat er in die Deutsche Kommunistische Partei(DKP) ein. Nach dem Erscheinen der „Kleinstadtnovelle“ zog er nach Westberlin, wechselte zur Sozialistischen Einheitspartei Westberlins(SEW) und studierte an der FU Germanistik, Philosophie und Psychologie und engagierte sich in der westberliner Schwulenbewegung. Aber in dieser Zeit treibt ihn auch der Wunsch um am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ zu studieren, doch als schwuler Kommunist aus Westberlin muss er enorme Hindernisse überwinden um  angenommen zu werden. Er kann von 1986 bis 1989 dort studieren, aber die in dieser Zeit entstandenen Texte werden auf Grund seiner kritischen Haltung zur DDR nicht veröffentlicht. Nachdem er 1989 die Staatsbürgerschaft der DDR beantragt hat, wird sie im September genehmigt, kurz bevor die DDR verschwindet und er nach Berlin-Hellersdorf zieht. Ein paar Wochen nachdem er seinen monumentalen Montageroman „legende“ beendet hat stirbt er am 20. Oktober 1991 mit nur 31 Jahren an AIDS. Sein facettenreiches Leben und Schreiben schildert Matthias Frings recht eindringlich und persönlich in der Biografie „Der letzte Kommunist – Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau“.

Das sein Werk nach wie vor große Aktualität besitzt, zeigt die kommentierte Neuausgabe der „legende“ im Verbrecher-Verlag 2019, Veranstaltungen im Literarischen Colloquium und ebenso im letzten Jahr die Aufführung einer Bearbeitung der „legende“ für das Theater durch Stefan Pucher an der Berliner Volksbühne.

und übrigens ist der tod kein argument gegen das leben.

Bücher von und über Ronald M. Schernikau:

  • Kleinstadtnovelle. Rotbuch, Berlin 1980; Neuauflage Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2002.
  • die heftige variante des lockerseins. ein festspiel. Selbstverlag, Berlin 1981.
  • petra. ein märchen. Mit Grafiken von Uliane Borchert, Edition Mariannenpresse, Berlin 1984.
  • die schönheit. Uraufführung Berlin am 4. Dezember 1987.
  • die tage in l. – darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1989; Neuauflage Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2001.
  • das märchen von der blume. Mit Grafiken von Uliane Borchert, Selbstverlag, Berlin 1990.
  • Dann hätten wir noch eine Chance – Briefwechsel mit Peter Hacks; Texte aus dem Nachlaß. Konkret, Hamburg 1992 (Konkret Texte 1).
  • legende. Verlag ddp goldenbogen, Dresden 1999, ISBN 3-932434-09-9. Neuauflage Verbrecher-Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-95732-342-2
  • Königin im Dreck. Texte zur Zeit. (Hrsg.: Thomas Keck), Verbrecher Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-940426-34-5.
  • Irene Binz. Befragung. Rotbuch Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-86789-095-3
  • und als der prinz mit dem kutscher tanzte, waren sie so schön, daß der ganze hof in ohnmacht fiel. ein utopischer film. (Hrsg.: Thomas Keck), Verbrecher Verlag, Berlin 2012, ISBN 978-3-943167-10-8.
  • Matthias Frings: Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau. Aufbau-Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-351-02669-1.
  • Helen Thein, Helmut Peitsch (Hrsg.): Lieben, was es nicht gibt. Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau. Verbrecher Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-95732-200-5.

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